Stell dir vor, du schlenderst durch eine Einkaufsstraße. Es ist Samstag Vormittag und viele Menschen tummeln sich in den Läden. Auf deinem Arm trägst du deinen einjährigen Sohn. Er ist fasziniert von den vielen Farben, den Geräuschen und dem Trubel insgesamt. Gerade bestaunst du mit ihm zusammen die mächtigen Bäume, die sich in der Mitte der Straße entfalten. BOOM. Chaos, alles liegt in Trümmern, deine Ohren sind betäubt, deine Sicht getrübt. Deine Haut brennt. Gedämpfte Schreie, Panik breitet sich in deiner Brust aus. Eine Bombe. Direkt vor deinen Füssen! Wo ist dein Sohn? Ein Pfeifen. Dir wird schwarz vor Augen. Hektik. Da, da ist er. Dein Sohn… Dein Herz bleibt stehen. Dein Sohn liegt dort und schaut dich an. Die Arme greifen nach dir. Tränen. Du musst ihn hier wegbringen.
Stell dir vor, du sitzt auf dem Boden deines Containers, einer von 200, zusammen mit deinem Sohn und einem Bekannten. Der schwarze Tee mit etwas Zucker ist noch zu heiß zum trinken. Dein Sohn ist unruhig und du bist genervt von seinen Nörgeleien. Dein Bekannter versucht Gespräche anzuregen über die Drängeleien bei den Essensausgaben, den Einzug einer Familie in den benachbarten Container 65, doch du möchtest nicht reden. Du möchtest nicht denken. Doch die grauen Wellwände, der graue Boden zwingen dir immer den gleichen Gedanken auf… Als dein Bekannter sich verabschiedet, merkst du, dass dein Sohn neben dir schläft und dein Tee kalt ist.
Stell dir vor, du stehst an einem Tisch mit verschiedenem Gemüse. Sechs weitere Menschen schnippeln mit dir Zwiebeln, Möhren, Auberginen, Kartoffeln, Kohl und Paprika. Nebenher unterhältst du dich in verschiedenen Sprachschnipseln und mit Händen und Füßen über dein gestern fertiggestelltes Holzregal und die farbenfrohen, selbstgemachten Armbänder. Ab und zu bittest du die freiwillige Unterstützerin weitere Zutaten aus der Essenskammer zu holen. Du freust dich, dass es heute für alle was richtig leckeres zum Mittag geben wird – und zwar mit deiner Hilfe! Einige Male schaust du durch das Fenster hinaus und siehst deinen Sohn. Er bastelt mit weiteren Kindern unter Anleitung eines Unterstützers lachende Gesichter aus bunten Luftballons. Als das Essen gerade verteilt ist, gibt es einen ordentlichen Applaus von über 80 Leuten für das Küchenteam. Dein Sohn sitzt neben dir und zeigt dir ganz stolzerfüllt seine fröhliche Knetfigur.
Drei Welten, eine Erde
Drei Vorstellungen, die alle so oder so ähnlich wirklich auf dieser Erde passieren. Sozusagen drei verschiedene Welten. Steffen und ich bekommen gerade von allen drei etwas mit. Wir sind nämlich zwei der freiwilligen Unterstützer aus Welt Drei. Es handelt sich dabei um Habibi.Works, einer offenen Werkstatt für Menschen, die aus ihrer Heimat geflohen sind. Hier können sie produktiv sein und eine neue Perspektive für ihr Leben finden. Denn die letzten Tage, Wochen, Monate und Jahre dieser Menschen waren nämlich oft ohne Perspektiven erfüllt. Zuerst war da die Entscheidung zu fliehen.
Auf und davon – Die freie Flucht
Urlauber, Auswanderer, Langzeitreisende und viele andere fliehen vor ihrer Kultur, dem Bekannten und Gewohnten, dem Alltag, der dörflichen Langeweile, der Enge des eigenen Landes, der Stadt und ihren Geschichten, festgefahrenen Strukturen, dem nicht erfüllenden Job, der Kälte, der eigenen Person. Diese vielfältigen Fluchtursachen haben Steffen und ich aus Sendungen wie „Die Auswanderer“ und dem schweizerischen Pendant „Auf und Davon“ entnommen, die gerade sehr beliebt zu sein scheinen.
Die Menschen aus Deutschland und anderen wohlhabenden Ländern „fliehen“, da sie es können – die Menschen aus den anderen Ländern fliehen, da sie es müssen.
Was für ein Luxus Steffen und ich doch haben, dass wir einen deutschen Pass besitzen, mit dem wir uns in den allermeisten Fällen frei auf dieser Erde bewegen können. Ein großes Privileg, dass wir uns in keinster Weise erarbeiten mussten. Wir konnten einfach so, aus freien Stücken, durchströmt mit dem Gefühl von purer Freiheit und einer Gänsehaut aus Respekt vor und von der ganzen Erde, unsere Rucksäcke packen und losziehen. Wahnsinn! Die freie Flucht der Privilegierten. Das Ziel dieser Menschen: ein schönes Leben.
Würdest du in Welt Eins leben wollen?
Das Ziel eines schönen Lebens verbindet diese mit denjenigen Menschen, die wir wirklich als „Geflüchtete“ bezeichnen. Doch der grundlegende Unterschied ist die Fluchtursache. Nicht dörfliche Langeweile noch die Kälte des Winters sind es, von denen Menschen erzählen, die wir in Habibi.Works treffen. Nein, es sind brutaler Krieg; Morddrohungen, weil man an einen anderen Gott glaubt oder das gleiche Geschlecht liebt; wirtschaftlicher Ruin, weil die Ernte aufgrund des Klimawandels zu schlecht war; Folterung, wenn man der falschen Partei angehört; Terror; null Möglichkeiten eine anständige Arbeit zu finden; keine soziale oder sonstige Absicherung… Es gibt viele schreckliche Erfahrungen, die Menschen in ihrer Heimat erleben müssen.
Stell dir vor, du würdest in Welt Eins leben. Würdest du bleiben wollen?
Vom Stillstand und dem Wunsch, sein Leben zu ändern
Steffen und ich „fliehen“ genau andersrum – die „Balkan-Route“ von Z nach A. Wir möchten möglichst viele Menschen und ihre Geschichten kennenlernen und uns in verschiedenen Projekten engagieren. Unser Reisekodex zeigt die vielen verschiedenen Facetten, die wir auf unserem Weg einbinden.
Bisher sind wir vielen Menschen begegnet, die ihr Leben ändern möchten: meistens junge Menschen aus Kroatien oder Serbien, die nach Deutschland oder Schweden möchten, da sie keine Zukunft in ihrem eigenen Land sehen. Meistens nennen sie die Politik und/oder die wirtschaftliche Situation als Grund. Sie sehen nur Stillstand.
Jede einzelne Geschichte ist herzzerreißend
In Welt Zwei treffen wir auf eine ganz andere Art von Stillstand. Seit über zwei Jahren sitzen Menschen hier in Nordgriechenland fest. Wie in einem Gefängnis, nur anstatt der Gitterstäbe sind es die grauen Wellwände der Container, die griechische Wirtschaft und Politik, die Grenzen zu den Wunschländern.
Knapp 1000 Geflüchtete sind allein im Camp Katsikas untergebracht. Viele haben noch Familie in ihren Heimatländern, um die sie jede Sekunde bangen müssen. Andere haben Bekannte in Gefängnissen und fürchten sich vor schlechten Nachrichten. Andere haben ihre Geliebte in Athen oder Schwestern in Deutschland. Jede einzelne Geschichte ist herzzerreißend. Die plagenden Minuten vergehen nur stündlich. Träge ziehen die Tage dahin. Und immer diese quälenden Gedanken.
Was tun? Zurück in die Heimat? Versuchen ohne Papiere die Grenzen zu überqueren?? Hier die Sprache lernen und sich einen Job suchen?
Stell dir vor du würdest in Welt Zwei leben. Was würdest du tun?
Warten auf eine Zukunft
Meistens lautet die Antwort: Warten. Die Geflüchteten sitzen im Camp und warten. Warten auf eine Zukunft. Doch Hoffnungslosigkeit ist omnipräsent. Viele europäische Staaten schotten sich ab, machen zu. Rechtsextremismus ist wieder en vogue. Medien berichten eher über dumme Twitter-Aussagen als über das Ausbleiben der dringend benötigten Vor-Ort-Hilfe und Fluchtursachenbekämpfung in den Heimatländern. Was viele nicht hören wollen: Europa trägt eine Mitschuld und Mitverantwortung!
Ein Stück Würde zurückbekommen
Somit zu Welt Drei: Dem Projekt Habibi.Works in Katsikas. Diese offene Werkstatt wurde im August 2016 von dem deutschen Verein Soup and Socks gegründet. Hierher zu kommen bedeutet für viele den ersten Schritt der Integration zu machen, weil sie in Habibi.Works mit anderen Kulturen und Regeln in Kontakt kommen. Den Geflüchteten soll in ihrer Wartezeit hier eine Möglichkeit der Entwicklung und Entfaltung gegeben werden. Dieser „Wartebereich“ ist allerdings sowas von lebendiger als der bei Ärzten: In verschiedenen Bereichen wie Textil, Kreativecke, Holz- und Metallwerkstatt, Küche und Media Lab können sie ihre Fähigkeiten einbringen und Nützliches anfertigen. Vom internationalen Team bekommen sie professionelle Unterstützung dabei. Hilfe zur Selbsthilfe also.
Die Menschen, die hier täglich zwischen 11 und 18 Uhr herkommen, kommen mit Vorfreude und gehen mit einem Lächeln und einem neuen Armband oder Holzregal. Jeden Tag aufs Neue merkt das Team, dass die Arbeit hier Sinn macht. Sinn für die Menschen, die sonst nur in Welt Zwei sein würden. Sie können hier selbstbestimmt arbeiten und so ein Stück Würde zurückbekommen.
Heilung oder Symptombehandlung?
Doch die Hoffnungslosigkeit der Welt Zwei kennt leider keine Grenzen, denn Welt Drei bietet nur eine Symptombehandlung, aber keine Heilung. Die Fragen bleiben bestehen. Was tun? Welt Eins müsste abgeschafft werden. Doch ohne geballte politische Entscheidungen und Anstrengungen auf europäischer und internationaler Ebene Welt Eins abzuschaffen, wird es immer auch Welt Zwei und Drei geben.
Von Welt Zwei in Welt Drei
Wir freuen uns über jede einzelne Person, die sich auch für andere Menschen einsetzt, vor allem für solche in Not. Unsere Zeit hier in Habibi.Works ist für uns der gelebte Beweis dafür, dass man etwas verändern kann. Nur ein paar Engagierte haben es geschafft, Menschen aus Welt Zwei in Welt Drei zu übergeben.
Yeah, Verlängerung!
Steffen und ich sind mittlerweile bereits drei Wochen hier. Steffen unterstützt Projekte in der Metallwerkstatt und ich im Kreativatelier. Wir haben unsere Zeit hier bis zur Weihnachtspause verlängert. Wir werden Habibi.Works auf jeden Fall noch weiter unterstützen, weil wir bisher so herzerwärmende und schöne Momente erlebt haben.
Auf weitere drei unvergessliche Wochen!